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09.10.2023 Kategorie: Ejuwo

Menschengeschwister

Gedanken aus unserer Gedenkstättenfahrt nach Sachsenhausen vom 29.9.-3.10.

„Ich habe das Gefühl, dass die Geschehnisse vergessen und heruntergespielt werden“, sagte einer der jungen Menschen letztes Wochenende auf die Frage hin, was ihn erschreckt habe.

Wir waren auf Gedenkstättenfahrt und hatten zuvor das ehemalige Konzentrationslager in Sachsenhausen besucht sowie die letzten Spuren des ehemaligen Konzentrationslagers in Oranienburg zu entdecken versucht. Die Teilnehmenden waren mit ganz unterschiedlichen Erwartungen mitgekommen: „Einblicke in die Vergangenheit“, „dazu lernen“, „Austausch“, „Zukunftsimpuls“ und so tauchten wir in die Geschichte ein. „Viel greifbarer und dichter dran als nur darüber zu lesen oder zu hören“, sagten die jungen Menschen mehrfach an diesen Tagen und ja, so ging es mir auch. Vor Ort zu sein und von unseren Guide, einem Historiker, sowohl Hinweise zur Architektur der Macht und der Ideologie der Nationalsozialisten zu bekommen war die eine Dimension. Und zugleich transportierte er deutlich: wir sind an einem Ort des Gedenkens. Die Opfer stehen hier im Mittelpunkt und zwar ganz konkret. Nicht als abstrakte Zahlen, sondern als Menschen mit einem Leben, einer Geschichte, Beziehungen und dem großen Leid, dass ihnen widerfahren ist.

Wir hören vom Kommunisten Harry Naujoks, der immer wieder Hilfe für andere organisiert und mit kleinen Gesten Widerstand leistet. Von Thomas Buergenthal, der als Zehnjähriger im Januar 1945 aus Auschwitz-Birkenau bis zum Bahnhof Oranienburg kam und dann quer durch die Stadt bis nach Sachsenhausen marschieren muss. Von Martin Niemöller, der vom kaisertreuen Marineoffizier und Antisemiten im Versuch seine Kirche zu schützen zum Widerständler gegen Hitler und schließlich Pazifisten wird. Er gewinnt die Erkenntnis, dass „ich als Christ nicht nach meinen Sympathien und Antipathien mich zu verhalten habe, sondern dass ich in jedem Menschen […] den Menschenbruder zu sehen habe“.

Es sind diese Hoffnungsgeschichten, die uns aufhorchen lassen. Hoffnung neben all den Toten und Ermordeten. Wir diskutieren die immer wiederkehrende Frage, wie es überhaupt so weit kommen konnte.

Und zugleich nehmen wir Geschehnisse von heute wahr: die Baracke 38 auf dem Gelände der Gedenkstätte, die 1992 einem rechtsextremen Brandanschlag zum Opfer fiel. Ein Tunesier, der 2002 von Rechtsextremen über die Berliner Straße gehetzt wurde; die Tür der Polizeiwache auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Oranienburg blieb trotz Klopfen verschlossen. Rechtspopulismus, Rechtsextremismus, einschlägige Begriffe aus der NS-Zeit breiten sich aus und werden wählbar.

„Ich habe das Gefühl, dass die Geschehnisse vergessen und heruntergespielt werden“, klingt in meinem Ohr und ich teile das Gefühl. Und zugleich ist es mir und vielen jungen Menschen wichtig, dass genau das nicht passiert.

Wir diskutieren intensiv. Es geht nicht um Schuld, dafür sind wir alle zu jung. Aber die Frage nach Verantwortung stellt sich. Verantwortung für das Erinnern an Orten des Verbrechens, an das Erinnern an die Opfer. Wir können nur aus der Geschichte lernen, wenn wir uns an sie erinnern. Am Ende der Fahrt denken wir über den „Zukunftsimpuls“ nach, wie es einer der Teilnehmenden formulierte. Mehr wahrnehmen: nächstes Jahr gibt es Gedenkstättenfahren nach Buchenwald und Auschwitz. Seine Meinung sagen: das wird ein Workshop. Und an der eigenen Haltung arbeiten, da bin ich noch bei Niemöller: nicht nach meinen Sympathien und Antipathien verhalte ich mich, sondern ich sehe in jedem Menschen eins von meinen Menschengeschwistern.

"Kann Hoffnung an diesem Ort existieren?" fragt eine Kunstinstallation auf dem Gelände der Gedenkstätte

In der sogenannten "Station Z" befindet sich ein Gedenkort

Die Baracke 38 fiel 1992 einem Brandanschlag zum Opfer; dessen Spuren sind konserviert

Im Zellenbau erinnern zahlreiche Tafeln an die dort Inhaftierten

In Oranienburg entstand eines der ersten Konzentrationslager

Mit einem Audiowalk begeben wir uns auf Spurensuche

Vom Konzentrationslager Oranienburg steht nur noch eine alte Brandschutzmauer; auf dem Gelände wird aktuell ein Wohnheim für Polizeianwärter*innen gebaut

Das Jüdische Museum lädt ein zum Entdecken und auseinandersetzen; wir schreiten über Schalechet (Gefallenes Laub) von Menashe Kadishman

Den Abend lassen wir bei Hummus & Friends mit koscherem Essen ausklingen

Auswerten und nach vorne schauen: was machen die Eindrücke mit uns, woran sollten wir weiterarbeiten

Beitrag von Thomas Otte